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Corona und die Folgen

Verantwortlicher Autor: Herbert Reis Aachen, 30.05.2022, 11:18 Uhr
Presse-Ressort von: m.e. Herbert Reis Bericht 9420x gelesen

Aachen [ENA] Kinder und Jugendliche leiden weiter unter den Folgen der Corona-Pandemie. Auch wenn die Schulen längst wieder geöffnet sind, die psychischen und bildungstechnischen Auswirkungen werden weiter andauern. Viele Ausbildungsbetriebe melden einen starken Rückgang der schulischen Bildung bei den Bewerbern. Auch ein noch so gutes „Home-shooling“ konnte den Präsenzunterricht nicht ersetzen.

Die schlechtere Schulbildung ist das Eine, die psychische Entwicklung der jungen Menschen ist das Andere. Aber warum ist die Situation für die jungen Menschen besonders belastend? Im Vergleich zu Erwachsenen, sind sie mitten in ihrer Entwicklung getroffen, und diese Zeit kann man nicht mehr, oder nur sehr schwer nachholen. Im Jugendalter geht es um die Entwicklung einer Identität.

Aufgrund der großen Plastizität des Gehirns und der Lernfähigkeit im Kindes- und Jugendalter haben positive wie negative Umwelteinflüsse in dieser Lebensphase besonders starke Auswirkungen auf die Entwicklung. Negative wie positive Einflüsse können sich dabei summieren, aber auch kompensieren. Eine belastende Phase wie eine Pandemie wird dabei insbesondere Kinder und Jugendliche treffen, die zusätzlich anderen Risiken ausgesetzt waren oder sind wie beispielsweise Bildungsbenachteiligung sowie geringer sozialer Status. In normalen Zeiten – also ohne pandemiebedingte Einschränkungen – profitieren diese Risikogruppen erfahrungsgemäß besonders von qualitativ guten Bildungsangeboten in Kita und Schule.

Diese Kinder und Jugendlichen sollten besondere Beachtung finden, damit mittel- bis langfristige Folgewirkungen vermieden bzw. zumindest reduziert werden. Dabei darf allerdings nicht außer Acht gelassen werden, dass auch Kinder mit besseren Ausgangsvoraussetzungen ihr volles Entwicklungspotential nicht optimal ausschöpfen können, falls sie aufgrund pandemiebedingter Einschränkungen unterfordert bleiben.

Die Pandemie hatte in vielfältiger Hinsicht Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche, vor allem in den Bereichen Bildung, soziale Interaktion und sozioemotionale Entwicklung, körperliche Aktivität sowie psychisches Wohlbefinden. Nicht alle Kinder und Jugendliche sind im gleichen Maße betroffen. Zudem gibt es eine große Variabilität, wie gut sie, ihre Familien und ihr lokales Umfeld die Pandemiesituation bewältigen.

Schon vor der Pandemie gab es problematische Entwicklungen im deutschen Bildungssystem. In der Altersgruppe der 5-Jährigen wurde 2017 bei etwa jedem 5. Kind ein Sprachförderbedarf festgestellt. Im Jahr 2019 hatten am Ende der 4. Klasse mehr als 25% der Schülerinnen und Schüler, fast 200.000 Kinder, so niedrige mathematisch-naturwissenschaftliche Kompetenzen, dass sie vermutlich nach dem Übertritt in die Sekundarstufe I in beiden Bereichen nicht anschlussfähig lernen können. Etwa 21% der 15-jährigen in deutschen Schulen, d.h. rund 150.000 Jugendliche, konnten 2018 nicht sinnentnehmend lesen.

Rund die Hälfte der Schulabsolventinnen und -absolventen mit Migrationsgeschichte, die sich nach der Sekundarstufe I um einen Ausbildungsplatz bemühen, landen im sogenannten Übergangssystem, d.h. bleiben zunächst ohne Ausbildungsplatz. Auf diese Krisensymptome traf die Pandemie, die fast zwei Jahre lang immer wieder zu Kita- und Schulschließungen, Wechselunterricht und anderen Formen „reduzierten Lernens“ führte. Generell kann festgehalten werden, dass Kita- und Schulschließungen negative Effekte auf die fachspezifische Kompetenzentwicklung und die allgemeine kognitive Entwicklung haben. Im Kita-Bereich betrifft dies Kinder vor der Einschulung.

Mit Blick auf die Pandemie-Situation beschreiben so gut wie alle Studien eine deutliche Reduzierung der aktiven Lernzeit: Schüler und Schülerinnen verbrachten im Durchschnitt während des Distanzlernens im 1. Lockdown der Pandemie (Frühjahr 2020) – je nach Studie – 2,7 bis 5 Stunden pro Tag mit schulbezogenen Aktivitäten. Verschiedene Studien kommen zu dem Ergebnis, dass zwischen 23% und 57% der Schüler und Schülerinnen in den Distanzphasen weniger als 2 Stunden pro Tag für die Schule aufwandten.

Auch für den 2. Lockdown (Dezember 2020 bis Frühling 2021) war eine Reduktion der individuellen Lernzeit festzustellen. Mehrere Befragungen zeigen, dass die Reduktion der Lernzeit aufgrund des Fernunterrichts für jüngere Schüler und Schülerinnen höher ausfällt als für ältere. Für die Lernzeit von Kindern und Jugendlichen aus Familien mit geringen Ressourcen ergeben sich unterschiedliche Befunde: Eine Schülerbefragung und eine Elternbefragung berichten keine Unterschiede für die investierte Lernzeit für Kinder und Jugendliche aus sozial- und bildungsbenachteiligten Familien.

Im 1. Lockdown gaben jedoch deutlich mehr Eltern, die keinen akademischen Abschluss haben, an, dass ihre Kinder nie Online-Unterricht hatten (49%) als Eltern mit akademischem Abschluss (37%). Lehrkräfte von benachteiligten Schülern und Schülerinnen berichten, dass sie diese nicht erreichten (36%), für den Durchschnitt aller Schüler und Schülerinnen berichten das nur 12% der Lehrkräfte. Außerdem haben Kinder mit Leistungsschwächen während des 1. und 2. Lockdowns weniger Zeit mit schulischen Aktivitäten verbracht und waren deutlich schwerer zu Hause von den Eltern zum Lernen zu motivieren.

. Für den Lernerfolg relevant ist aber nicht nur, wie viel Unterricht stattfindet, sondern auch in welcher Qualität. Es ist zu beobachten, dass Lehrende bei der digitalen Lehre vorwiegend auf die Bereitstellung von Aufgaben, Videos etc. setzen, und wenige Möglichkeiten für das besonders lernwirksame konstruktive oder kooperative Lernen bestehen. Unterricht mit der ganzen Klasse (z.B. per Videokonferenz) fand in 70% der Fälle im 1. Lockdown höchstens einmal pro Woche statt, im 2. Lockdown in 39% der Fälle. Es werden auch positive Entwicklungen berichtet. Erste Studien zeigen, dass Eltern eine Verbesserung der digitalen Kompetenzen und des eigenständigen Lernens ihrer Kinder wahrnehmen.

Regelmäßiges und kontinuierliches Feedback, einer der wichtigsten Faktoren für erfolgreiches Lernen, wird selten systematisch in die digitale Lehre integriert. Im 1. Lockdown gaben 63% der Eltern an, dass ihr Kind höchstens einmal pro Woche Rückmeldung zu seiner Arbeit erhält, im 2. Lockdown 55%. Schließlich ist durch das Distanzlernen die Interaktion der Lernenden untereinander extrem erschwert. Somit fällt nicht nur ein lernwirksamer Faktor weg, sondern der auch für die psychosoziale Entwicklung enorm wichtige Einfluss gleichaltriger Peers. Letzteres trifft auch auf Kita-Kinder zu. Über Lernprozesse von Vorschulkindern zu Hause liegen bisher keine repräsentativen Daten vor.

Es ist davon auszugehen, dass vielfach die Förderangebote von Kitas nicht in die Familien verlagert wurden. Eine zusammenfassende Analyse, bei der die Testergebnisse nach dem 1. Lockdown von mehr als 2,5 Millionen Schülerinnen und Schülern aus 5 Ländern berücksichtigt wurden (B, CH, D, NL, USA) zeigt, dass die Schülerinnen und Schüler insgesamt etwa 23-35% Lernzeitverluste durch die Schulschließungen der 1. Lockdownphase erlebt haben: Die Lerneinbußen bei Kindern im Grundschulalter sind größer als bei älteren Kindern und in Mathematik deutlicher als in der Schulsprache.

Zudem zeigen die analysierten Studien große individuelle Unterschiede in den Lerneinbußen. Die berichteten Effektstärken können dahingehend interpretiert werden, dass bei den Jüngeren rund ein Viertel Schuljahr verloren gegangen ist. Je älter die Schülerinnen und Schüler waren, desto geringer die Verluste. Allerdings ist für die Bewertung des Lernrückstands wichtig zu berücksichtigen, dass sich die berichteten Ergebnisse nur auf eine relativ kurze Phase der Schulschließung (1. Lockdown im Frühjahr 2020) beziehen.

Die tatsächlichen Effekte über das Pandemie-Jahr hinweg sind noch nicht publiziert. Auf Basis der vorliegenden Ergebnisse ist davon auszugehen, dass die Lerneinbußen aufgrund des nachfolgenden Lockdowns größer – weil additiv – sind. Zudem können selbst kleine Effekte aufgrund der großen Zahl der Betroffenen deutliche volkwirtschaftliche Konsequenzen haben. Weitere Studien, die die Effekte separat für verschiedene Gruppen analysieren, zeigen durchweg, dass die Leistungseinbußen für Kinder mit schwächeren Vorleistungen und aus Familien mit wenigen Ressourcen besonders groß sind. Kinder und Jugendliche aus Familien, in denen die Eltern einen niedrigen Bildungsabschluss haben, nehmen die Pandemie als belastender wahr.

Sie empfinden das Lernen als anstrengender und haben häufiger Probleme, den schulischen Alltag zu bewältigen. Sie machen sich auch deutlich mehr Sorgen, um die Bildung ihrer Kinder, als Eltern mit einer höheren Bildung. Eltern mit Migrationshintergrund und ohne ausreichende Deutschkenntnisse können ihre Kinder während des Distanzlernens oft weniger gut unterstützen. Kinder und Jugendliche mit besonderem Förderbedarf sind auf passgenaue Angebote außerhalb der Familie angewiesen.

Hier sind neben den Ausfällen der Kita und Schule oft auch andere Förder- und Unterstützungsmaßnahmen weggefallen. Daten zeigen, dass die Belastungen für diese Familien bis auf ganz wenige Ausnahmen durchweg sehr hoch sind. Hinzu kommen vermehrt Probleme beim Lernen zu Hause, da die sonderpädagogische und individualisierte Unterstützung wegfällt. Die Ausbildungsbetriebe müssen mit erheblichen Aufwand diese Lücken schließen.

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